Sitzung
Die Sitzung
Es war kein Zufall, daß die parodistischen Formen nach der Reichsgründung schlagartig zunahmen. Das wilhelminische Reich war ja das das Inbegriff von ständigen Höhenflügen zu Prunk, Pathos, Kitsch und Selbststüberschätzung. Das hatte aber auch reale Hintergründe. Der Sieg über Frankreich hatte das Nationalgefühl aufgebläht, das Bruttosozialprodukt stieg unaufhörlich, die Zukunft leuchtete allein schon deshalb rosig, weil die Franzosen fünf Milliarden Francs Kriegsschuld bezahlen mußten.
Selbst die ärmeren Schichten konnten hin und wieder merken, daß es im preußisch-deutschen Reich allmählich besser ging, und diejenigen, die auch nur die untersten Stufen bürgerlicher Lebensgestaltung erreicht hatten, schwelgten im Gefühl, etwas Besseres werden zu können. Aufsteigertum und neureiches Gebaren prägten den gesellschaftlichen Stil. Der kreuzte sich allerdings mit jener typischen Neigung der rheinischen Stadtgemeinschaft zur humorvollen Nivellierung.
Mit ihr begann man erstmals auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu reagieren. Allzuviel Aufsteigertum hätte die Gemeinschaft, die man gerade erst errungen hatte, wieder gestört. Das ideale Medium, in dem sich der Ausgleich zwischen oben und unten, zwischen individuellem Aufstieg und Bekenntnis zur Gemeinsamkeit, zwischen Naturwesen und Gesellschaftsmensch vollziehen ließ, war: die Karnevalssitzung.